Expert Views

Published on Mar 23, 2021

Digitale Wende in der Luftfahrtindustrie

Wie Digitale Produktionsprozesse, Air Taxis und aggressive Unicorns die Luftfahrtindustrie revolutionieren

Ein Blick in den Himmel genügt meistens, um festzustellen, dass die Zahl der Passagiere und Linienflüge erheblich reduziert wurde – zumindest bei wolkenlosem Wetter. Inmitten des Umbruchs der Luftfahrtbranche hin zu einer automatisierten, digitalisierten und umweltfreundlichen Verkehrssparte hat Corona mit voller Wucht zugeschlagen und der Branche einen herben Schlag versetzt.

Noch immer ist unklar, wann und ob so etwas wie ein „normaler“ Alltag wie in Prä-Corona-Zeiten zurückkehren wird. Im Vergleich zum Vorjahr wurden die Starts der Linienflüge bis zum Beginn des Jahres 2021 weltweit nahezu halbiert. Und auch dann, wenn wieder die theoretische Möglichkeit zum weltweiten Reisen besteht, haben viele Menschen gelernt, auf vermeintlich wichtige, tatsächlich aber nicht notwendige Reisen zu verzichten. Nach einem kurzen Urlaubs-Boom, um den „Corona-Koller“ zu überwinden, wird vermutlich eine reduzierte Zahl von Flügen das neue Mittel bilden.Doch möglicherweise entwickelt sich die Lage auch anders beziehungsweise so, wie die vergangenen weltweit einschneidenden wirtschaftlichen Ereignisse die Luftfahrtindustrie eher beflügelt haben. Abgesehen davon, dass die Auswirkungen diesmal viel unmittelbarer und beschränkender für den Reiseverkehr sind, wäre es dennoch denkbar, dass auch nach dem Corona-Knick die Luftfahrtindustrie erneut mit einem exponentiellen Wachstum aus der Krise erwacht und die Erwartungen übertrifft.Die Branche selbst ist trotz des statistischen Hoffnungsschimmers eher konservativ in ihrer Planung und sieht sich erheblichen Änderungen gegenüber. Dies geht sogar so weit, dass Branchenexperten erwarten, bis 2030 keine neuen Modelle der Top-Hersteller Airbus und Boeing auf dem Markt zu sehen. Ohnehin sind gerade diese beiden Hersteller in argen Nöten, den neuen Standards oder teilweise sogar den Mindestanforderungen zu genügen. Gleichzeitig sprießen neue Startups aus dem Boden, die mit radikaleren Konzepten die Luftfahrt noch einmal ganz neu definieren wollen.

Corona als Wendepunkt für die gesamte Luftfahrtbranche?

Insbesondere die zwei Damoklesschwerter Nachhaltigkeit und Digitalisierung schweben über der Branche. Zwischen etablierten Unternehmen, die eine jahrzehntelange Tradition in der Branche haben, und erfolgshungrigen Startups bemüht sich die Luftfahrtindustrie ein besseren Image zu erlangen. Die wichtigsten Entwicklungen sind dabei vor allem:

  • Nachhaltigkeit / E-Mobilität: Am grünen Image der Luftfahrtindustrie wurde schon lange gefeilt, mit mäßigem Erfolg. Der Margendruck hat immer dafür gesorgt, dass Investitionen in ernste Maßnahmen zur Umweltfreundlichkeit schwer fielen. Mit Rolls-Royce als einem der größten Turbinenhersteller geht CO2-Neutralität auch hier in eine neue Runde. (“We’re committed to a net zero carbon future for all of our products, both existing and future.” – Simon Carlisle, Rolls-Royce Strategy Director for Civil Aerospace) Neue Konzepte in Richtung eines E-Antriebs, die bereits erfolgreich, aber für eine sehr kleine Reichweite in einer älteren Cessna getestet wurden, wecken dabei zumindest Hoffnung. Auch die längeren Wartungsintervalle von E-Fliegern, zumindest im Kleinmaschinenbereich, gelten als Chance für alternative Antriebe.
  • Air Taxis: Zwischen abgehobener Zukunftsvision und Klimaschutz steht das neue Konzept der Air Taxis. Die Entwicklung zahlreicher Modelle, vom Solarbetriebenen E-Flieger, Quadrocopter bis hin zu kleinen Propeller- oder Jet-Flugzeugen, sollen bald Realität werden. Ein Wettbewerb ist entbrannt, der die Entwicklungs-, Test- und Innovationsgeschwindigkeit stark antreibt. Auch Beispiele aus der DACH-Region, wie Lilium oder Volocopter, zeigen, dass das Konzept der Air Taxis zumindest möglich ist, sollten die regulatorischen Gegebenheiten es zulassen.
  • Disruption der Langstreckenflieger?: Das Duopol von Airbus und Boeing war lange Zeit unangefochten. Die Marktanteile der Langstreckenflieger waren schlichtweg zu hoch und die Kontrolle des Marktes fest in deren Händen. Boom Supersonic greift diese Vormachtstellung an und möchte mit Überschallflügen für die zivile Luftfahrt an die Erfolge einer gewissen Concorde erinnern. Dabei setzt Boom konsequent auf die AWS Cloud als Grundlage für seine vernetzte und hochpräzise Fertigung. Mit Hilfe der Services von AWS können so Simulationen, Daten und Sicherheitsrelevante Design-Aspekte kombiniert, berechnet und umgesetzt werden, was hinsichtlich der Qualität und Entwicklungsgeschwindigkeit die eigenen Ambitionen untermauert.
  • Digitalisierung der Privaten Luftfahrt: Was tun, wenn überfüllte Ferienflieger in Pandemiezeiten der Vergangenheit angehören? Richtig, man kauft sich einfach selbst ein Flugzeug und erwirbt den Flugschein. Dies ist sicherlich ein Privileg, das nur den allerwenigsten Menschen vorbehalten ist. Dennoch ist auch die private Luftfahrt ein wichtiger Markt und gleichzeitig digitaler Nachzügler. Das spezielle Ereignis des Kaufs einer privaten Maschine, zunehmend auch von manufakturähnlichen Anbietern neben Piper, Cessna und Co., muss noch hochgradig analog funktionieren. Da scheitert es teilweise bereits an Produktinformationen in der eigenen Muttersprache. Konfiguratoren, digitale Zwillinge und Co. sind dort noch in weiter Ferne. Hier erstreckt sich das digitale Entwicklungspotenzial direkt bis in den öffentlichen Verwaltungsbereich, der hinsichtlich der Zulassung von Sportflugzeugen noch eine Menge Nachholbedarf hat.
  • Drohnenlieferungen noch in dieser Dekade: Bis 2030 soll der Markt für Drohnenlieferungen weltweit ca. 5 Mrd. US-$ umfassen. Das Gros der Anteile entfällt auf die asiatischen und amerikanischen Länder. Europa stellt sich, nicht zuletzt aufgrund der regulatorischen Beschränkungen, erst einmal hinten an. Doch sollten die entscheidenden Barrieren fallen, könnte auch hierzulande ein gewaltiger Schritt in Richtung der automatisierten Auslieferungen gegangen werden. Möglicherweise kommt 2030 das wöchentliche Essenspaket schon per Drohne.
  • Digitale Zwillinge in Fertigung & Service: Das digitale Bindeglied für viele der oben genannten Trends ist der Digital Twin. Echter Fortschritt der Luftfahrt funktioniert nur, wenn der Einsatz der Technologien, die Nutzung der Daten und die Vernetzung und Automatisierung der Wertschöpfungskette vollständig sind. Dabei herrschen vor allem in der Produktion und im Service erheblicher Nachholbedarf. Das bedeutet, sowohl in der Fertigung als auch im anschließenden Service wird es digitale Zwillinge brauchen, um die Entwicklungsgeschwindigkeit zu erhöhen, die Produktqualität zu steigern und Produktionskosten zu senken. Resilienz und Nachhaltigkeit werden im Verbund dafür sorgen, dass sich Unternehmen und Menschen der Luftfahrt aufgeschlossener zuwenden. Was die Automotive-Industrie vielerorts schon vormacht, kann weitgehend durch die Luftfahrtbranche nachgemacht werden. Dies ist eine Chance, nicht nur für die disruptiven Startups, sondern auch für Traditionsunternehmen.

Production-Post-Production-Simulation-Twin-Aerospace

Standards & Technologie ebnen den Weg

Der Luftfahrtindustrie abzusprechen, dass sie zu einer der am höchsten technisierten und innovativen Branchen gehört, wäre wohl vermessen. Dennoch existieren aufgrund der extrem angespannten Marktlage seit jeher Lücken in der Innovation, die möglicherweise jetzt endlich gestopft werden könnten. Ob nun Corona, der kontinuierliche Wandel der Zeit, Digitalisierung oder die ernste Verfolgung von Nachhaltigkeitsinitiativen den Ausschlag für den anstehenden Umbruch geben, ist schwer auszumachen. Möglicherweise ist es auch die Kombination all dieser Faktoren.

Um diesen Umbruch nun gestalten zu können, braucht es mehrere Aktivitäten, die teilweise durch Startups schon vorgelebt werden:

  • Flying over in the Cloud: Wo scheint die Kombination aus Branche und Technologie passender als bei Luftfahrt und Cloud Computing? Nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich ist ein geo-redundantes Netz von IT-Infrastruktur, Rechenleistung und Anwendungen für die Luftfahrtindustrie ideal. Als Grundlage für die vernetzte Wertschöpfungskette und den digitalen Kunden- & Partnerkontakt wird die Cloud schon bald der Standard der Industrie sein. Hier gilt es vor allem für die Zulieferer und spezialisierten Hersteller, sich der Architektur der Branchenführer und Abnehmer (Airlines, Air Taxis etc.) anzupassen.
  • Daten, Daten, Daten: Das Datenaufkommen der Branche ist immens. Die Relevanz dieser Daten für eine resiliente Produktstrategie ist dabei ungebrochen hoch. Um diese Daten erfolgreich zu nutzen und damit einen weiteren Entwicklungsschritt zu erzielen, müssen sie verfügbar gemacht werden. Generell gilt, dass oft 90 % der Arbeit der „Data Science“ darin besteht, Daten auffindbar und verfügbar zu machen. Sie auch richtig einzusetzen, ist dann „lediglich“ die Kür.
  • Retrofit der Produktion: Der Margen- und Kostendruck der Branche wird auch durch digitale Höhenflüge erst einmal nicht verschwinden. Daher werden die OEMs und Zulieferer wohl kaum ihre Maschinenparks vollständig ersetzen. Um sie dennoch fit für Digital Twins, automatisierte Fertigungsketten und eine digitale Zukunft zu machen, können sie auch nachträglich mit der nötigen Sensorik und Rechenleistung ausgestattet werden, um die genannten Ziele zu erreichen. Das spart erheblich Zeit, Geld und Schulungsbedarf.
  • Gemeinsam in die neue Welt: Um die Luftfahrtindustrie zu retten, wurden weltweit einige Staatshilfen und Merger-Deals eingeleitet. Dies war aus Sicht der Branche sicherlich notwendig, wenn auch gesellschaftlich nicht unumstritten. Auch in Zukunft sollten Allianzen dafür sorgen, kluge und erlaubte Kartelle zu bilden, um die Verfolgung des gemeinsamen Ziels der Rettung, Innovation und Schaffung einer nachhaltigen Branche anzugehen. Dabei sollte so wenig Regulatorik und Staatseingriff wie möglich erfolgen, um die Agilität der Branche nicht durch Bürokratie zu zerstören.
  • Standards in Produktion & Technologie: Mit der Schaffung der Konsortien muss gleichzeitig auch die Definition wichtiger Standards erfolgen. Bestehende Standards im Umfeld der Übertragungstechnik, Produktion und der Entwicklung mit digitalen Zwillingen sollten dabei, soweit es geht, übernommen werden. In der hoch-spezialisierten Luftfahrt gibt es darüber hinaus jedoch auch einige weitere Bereiche, in denen keine Standards existieren, diese aber schleunigst geschaffen werden sollten. Auch wenn die Unternehmen selbst versuchen, diese zu schaffen, ist es im Einzelfall klüger, sich der Masse zu unterwerfen und sich auf das eigene Kerngeschäft zu fokussieren.

Die Branche steht nicht nur vor einem großen Umbruch, sie schafft auch mehrere Blasen, die in einer neuerlichen Konsolidierungswelle enden werden. Wer die Technologie und Innovation kontrolliert, der wird am Ende obenauf sein. Es ist fraglich, ob die traditionellen Unternehmen, die Startups oder gar beide überleben können, wenn auch in jeweils reduzierter Zahl. Wichtig ist es nun, eine schonungslose Analyse der Ist-Situation, des Wettbewerbs und der Zukunftsszenarien vorzunehmen. Spielen neue Technologien, Nachhaltigkeit und digitale Innovationen des Geschäftsmodells und deren Prozesse dabei keine Rolle, wird das Überleben zur Quadratur des Kreises.

Dann übernehmen womöglich doch Volocopter, Lilium oder Boom die Vorherrschaft am Himmel.