Expert Views

Published on Apr 06, 2020

Digitale Resilienz statt Digitale Disruption

Warum europäische Unternehmen die digitale Transformation vollenden müssen, um überlebens- und wettbewerbsfähig zu bleiben

  • Corona als Digitalisierungs-Turbo – in fast allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen erweist sich die Digitalisierung als Rettungsanker und Katalysator für kreative und solidarische Lösungen in der Krise.
  • CEOs müssen digitale Transformation vollenden – Die Überlebens- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sind direkt mit dem Digitalisierungsgrad verbunden. Viele Unternehmen in Europa sind auch in 2020 digital noch schlecht aufgestellt. Daher sind die CEOs verpflichtet, gemeinsam mit ihren CIOs und CDOs, die digitale Transformation voranzutreiben und zu vollenden.
  • Reset oder Reboot? Wie fährt man Business und IT nach der Krise wieder hoch? Ein “weiter so” kann es nach der Krise nicht geben. Die IT und Unternehmensprozesse müssen leaner, agiler und automatisierter werden. Bestehende Organisations- und Führungsmodelle sowie IT-Betriebskonzepte müssen kurzfristig auf den Prüfstand!
  • IT 2030 – Digitale Resilienz und hybride Organisation – Digitalisierung kann die Unternehmen resilienter in Krisen machen. Daher sollte die IT autonomer, automatisierter und agiler werden. Analog zur IT-Infrastruktur (“Hybrid Cloud”) werden auch Unternehmens- und IT-Organisationen zunehmend “hybrid”. Algorithmen und autonome Maschinen werden ihren Platz neben den Menschen und Applikationen bzw. Business- Prozessen einnehmen.

 

Corona als disruptive Kraft und Digitalisierungs-Turbo

“Durchbruch für Digitalisierung”, “Wie das Virus der Digitalisierung Beine macht” oder “Durch Corona wird das Internet zur Selbstverständlichkeit” – in dieser Form lesen sich derzeit die Schlagzeilen zu Artikeln, welche die Auswirkungen des Coronavirus auf die Digitalisierung der unterschiedlichsten Lebensbereiche beschreiben.

  • HomeOffice: Fast alle Unternehmen ermöglichen das flexible Arbeiten von zu Hause; Videokonferenzen werden zur Selbstverständlichkeit.
  • Digitales Klassenzimmer: Da Schulen, Kindergärten und Universitäten vorerst geschlossen sind, wird eLearning zum Massenphänomen und derzeit viel experimentiert – auch wenn das “Digitalisierungs-Gap” in Bereichen der Schulen noch eklatant ist.
  • Online-Medizin: Information und Diagnose verlagern sich fast massiv auf digitale Kanäle. Neue Formen der Versorgung und Betreuung entstehen.
  • Unterhaltung & Kultur: Konzerte und Veranstaltungen finden virtuell statt; Online-Streaming sorgt für den größten Peak des Internetverkehrs, der am Frankfurter Austauschknoten DE-CIX jemals gemessen wurde: 9,1 Terabit/s!
  • Soziales Leben: In Zeiten von “Social Distancing” spielen digitale Medien und das Internet für die private und soziale Vernetzung sowie die gesellschaftliche Solidarität eine immanent wichtige Rolle. So treten sogar die Probleme mit “Fake News” in den Hintergrund.
  • Digitales Rathaus: Behörden und öffentliche Einrichtungen schränken den Publikumsverkehr ein und bauen digitale Anlaufstellen und Dienste aus.

Die Corona-Krise stellt eindeutig einen Wendepunkt in der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft dar. Während in den vergangenen Jahren viel über die disruptive Kraft der Digitalisierung diskutiert, aber zu wenig gehandelt wurde, zeigt sich in der jetzigen Krise der wahre Charakter digitaler Innovationen. Diese machen Unternehmen und Organisationen in der Krise anpassungsfähig, handlungsfähig und somit überlebensfähig. Digitale Innovation ist damit gleichbedeutend mit “Digitaler Resilienz” – sprich der Fähigkeit, sich mittels Digitalisierung bestmöglich gegen unvorhergesehene Krisen und externe Einflüsse zu immunisieren.

In der derzeitigen Krisensituation realisieren viele CEO, CIOs und Politiker, dass die “disruptive Kraft” nicht von Startups oder digitalen Geschäftsmodellen, sondern einem schnöden, aber gefährlichen, Virus ausgeht. Auch tritt der Zusammenhang zwischen Digitalisierungsgrad und Wettbewerbsfähigkeit offen zu Tage. Während Amazon seine Marktmacht weiter ausbaut und 100.000 Stellen schafft, stehen viele traditionelle Unternehmen in Europa vor dem Aus. Automatisierte Prozesse, datengetriebene Entscheidungen und ein digitales Geschäftsmodell werden zum Survival-Kit in der Corona-Wirtschaft.

Die Krise verändert zudem radikal die Adaptionsmechanismen neuer und digitaler Technologien. Digitale Nachzügler wird es bald wohl nicht mehr geben. Probleme beim Umgang mit Video-Conferencing – alles Schnee von gestern. In einer solchen Krise braucht es kein Nudging, kein Manual, kein aufwändiges Change Management und vor allem keine Bedenkenträgerei, sondern pragmatische Lösungen – und diese sind heute vielfach digital. Nutzer freunden sich schnell mit neuen Lösungen und digitalen Diensten an, sofern diese ihnen helfen, ihren beruflichen und familiären Alltag unter den schwierigen Voraussetzungen zu organisieren.

Auch wenn Veranstaltungsverbote und “Social Distancing” als harte Regelungen einige Journalisten schon von einer “Zwangsdigitalisierung” sprechen lassen, sind die meisten Bürger und Konsumenten froh und dankbar, wenn Unternehmen, Behörden und Gesundheitseinrichtungen sie digital informieren und unterstützen. So liegt in der aktuellen Krise eine große Chance. Technologie und Digitalisierung werden nicht mehr primär als Risiko, sondern als Chance betrachtet. Am Hackathon der Bundesregierung haben sich über 4.000 Teilnehmer engagiert. Unter dem Hashtag #gemeinsamgegencorona werden täglich tausende neue Ideen und digitale Hacks mit der Community geteilt, um sich Mut zu machen und zu helfen. Digitalisierung und neue Technologien werden von der Mehrheit der Bevölkerung als Aktivposten und Rettungsanker in der Krise betrachtet.

Zudem erahnen Bürger und Unternehmer das Potenzial neuer Technologien, wenn zum Beispiel:

  • Autonome Roboter und Drohnen in der Versorgung in stark kontaminierten Gebieten übernehmen können
  • AI-basierte Chatbots und Spracherkennung überfüllte Hotlines entlasten und die Behandlung fremdsprachiger Patienten ermöglichen
  • Augmented und Virtual Reality zur Fernwartung von Produktionsanlagen und Maschinen eingesetzt werden können, wenn Ingenieure unter Quarantäne stehen

Dieser Mindshift tut Deutschland und Europa sicher gut und ist hoffentlich die Basis für eine erfolgreiche und schnelle Digitalisierung in der Post-Corona-Phase.

 

Digitale Transformation vorantreiben und vollenden – viele Unternehmen digital noch schlecht aufgestellt

Daher ist die Marschroute für CEOs und CIOs klar vorgezeichnet: Die Digitalisierung muss in und nach der Krise vorangetrieben und vollendet werden. Denn Corona wird nicht das letzte Virus mit Pandemie-Potenzial sein. In einer hyper-vernetzten Welt-(Wirtschaft) wird es ähnliche Krisen zukünftig wohl leider häufiger geben – wenn auch hoffentlich mit weniger gravierenden Auswirkungen.

Allerdings ist die Situation in vielen deutschen und europäischen Unternehmen im Hinblick auf die Digitalisierung noch ernüchternd:

  • Mehrheit der Unternehmen hat keine flächendeckende HomeOffice-Regelungen sowie keine etablierte “New Work”-Kultur und somit wenig Erfahrung mit Home Office & Flexwork
  • Mehr als 70% der Unternehmen in DACH-Region haben die digitale Transformation noch nicht abgeschlossen und stecken noch mitten in der Umsetzung ihrer Maßnahmen und Projekte (von denen naturgemäß auch viele scheitern)
  • Logistik- und Produktionsketten sind zwar optimiert – aber meist auf Basis von Erfahrungswissen einzelner Mitarbeiter und umfangreichen Prozessdokumentationen statt digitaler Automation und autonomer Steuerung durch Künstliche Intelligenz (KI)
  • Kundenbeziehungen und Kommunikationskanäle sind nur teilweise digitalisiert und automatisiert – Omni-Channel Commerce, AI-basierte Call Center und voll digitalisierte Prozesse statt Papier & Scan sind noch die Ausnahme

CIOs und Digitalchefs haben in den kommenden Wochen und Monaten schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Denn parallel zum konkreten Krisenmanagement (vgl. “Wie CIOs der Corona-Krise begegnen”) muss ein Portfolio- und Budget-Review vorgenommen werden. Es gilt kurzfristig aus operativer und strategischer Perspektive zu bewerten, welche Digital- und IT-Projekte weitergeführt und welche gestoppt werden. Gemeinsam muss die Frage beantwortet werden, wie man in IT und Digitalabteilung zu den unternehmensweiten Sparzielen beitragen und freien Cash-Flow generieren kann und welche krisenrelevanten Projekte und strategischen Innovationsprojekte weiter finanziert werden sollen.

 

Reset vs Reboot – Wie fahren CEOs und CIOs ihr Business nach der Krise wieder an?

Neben all den operativen Problemen und Herausforderungen, welche die Krise mit sich bringt, ergibt sich für viele CIOs und Digitalchefs aber auch eine Chance: die Neuausrichtung ihrer Strategie für die kommenden Jahre. Und auch die Beantwortung der Frage, wie man in der Post-Krisenphase weitermachen möchte. Mit welcher Strategie? Welchen Partnern? Welchen Technologien und Providern?

Ein “Reset” ist in einigen Unternehmen durchaus möglich und vielleicht sinnvoll. Dies gilt für

a) Unternehmen in stark krisengebeutelten Branchen, die ohnehin nahe am Abgrund stehen und ihre Unternehmensstrategie und Finanzsituation komplett neu denken müssen,

b) Unternehmen mit einer sehr hohen “technologischen Schuld” bzw. einem hohen IT-Legacy-Anteil und

c) Unternehmen, in denen in den letzten Jahren das Zusammenspiel von Digitalabteilung, IT und Business Units nicht funktioniert und die digitale Transformation ausgebremst hat.

Der “Reboot” ist für die Mehrheit der Unternehmen wohl der wahrscheinliche und passende Weg. Aber auch vor einem Neustart sollten die CIOs und CDOs einige “Updates” machen und “Patches” einspielen. Denn ein simples “Weiter-so” und eine Rückkehr zum Business-as-usual sollte und kann es vermutlich auch nicht geben. So haben sich in der Krise vielfach Schwächen und Risiken offenbart (z.B. in den Betriebs- und Business Continuity-Konzepten, der Ausstattung mit Home-Office-Arbeitsplätzen, dem flexiblen Zugriff auf Daten und den Analytics- und Forecasting-Skills). Und es braucht kreative Ideen, wie sich digitale Innovationsvorhaben mit strategischer Relevanz schneller und kostengünstiger umsetzen lassen. Wie können beispielsweise Ausschreibungsprozeduren verkürzt und Projekte pragmatisch vergeben werden? Wie neue Dienstleistungspartner gewonnen und von gemeinschaftlichen Finanzierungswegen von Digitalprojekten überzeugt werden? Inwieweit gehen Dienstleistungspartner unternehmerisch mit in Vorleistung, wenn es um die Entwicklung neuer digitaler Lösungen und Services geht? Wie können digitale Services zukünftig orchestriert werden und sich Cloud Services mit Custom Development intelligent und kostengünstig verbinden?

Neben den taktischen Maßnahmen für kurzfristige Einsparungen, die fast alle erfahrenen CIOs und Digitalmanager beherrschen, gilt es in den kommenden Monaten kreative, partnerschaftliche und unternehmerische Ansätze zu finden, um die Digitalisierung unter erschwerten Bedingungen weiter zu führen. Und hier werden sich mittel- und langfristige Wettbewerbsvorteile für die Unternehmen ergeben. In der (Post-)Corona-Zeit werden CIOs und CDOs somit zum echten USP für ihre Unternehmen!

 

Zielbild der Unternehmens- und IT-Strategie 2030: Digitale Resilienz und die hybride Organisation

Bei der Neuausrichtung ihrer IT- und Digitalstrategien sollten Entscheider folgenden Gestaltungskriterien besondere Aufmerksamkeit schenken und für eine “Digitale Resilienz” ihrer gesamten Organisation sorgen:Denkbare und vergleichbare Risiken mit einer geringen bis mittleren Eintrittswahrscheinlichkeit könnten zukünftig sein:

  • Hochinfektiöse und gefährliche Malware
  • Großflächige Stromausfälle
  • Ausfall globaler Internet-Companies (z.B. Google oder Amazon)
  • Ein neuer “schwarzer Schwan”

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung mittel- und langfristig die Organisationsmodelle der Unternehmen entwickeln – und wie sich die IT anpassen bzw. diese aktiv mitgestalten kann.

 

Hybride IT Organisation 2030

Quelle: Crisp Research by Cloudflight GmbH, 2020

 

Künstliche Intelligenz stellt IT vor neue Herausforderung

So ist davon auszugehen, dass die IT-Organisation der Zukunft nicht mehr “nur” menschliche Nutzer, SW-Applikationen, Daten und Hardware managed. Sondern es ist anzunehmen, dass intelligente, autonome Maschinen und Anlagen bzw. (IoT) sowie autonome Algorithmen zwei weitere wesentliche Assets sein werden, die gleichberechtigt durch die IT betreut werden.

Während man früher noch brav seine PCs und Notebooks inventarisierte und Lizenzen gezählt und aktualisiert hat, wird in der Zukunft das Life-Cycle Management von unternehmenskritischen Algorithmen und der Betrieb von hochgradig autonomen und automatisierten Fertigungsanlagen und Logistikketten im Fokus der IT stehen. Die globalen Internet- und Cloud-Companies á la Amazon, Facebook und Google geben hier einen Vorgeschmack. In beiden Unternehmen sind heute schon Algorithmen die zentralen Assets und prägen auch die organisatorische Aufstellung.

So werden spannende sicherheitstechnische und organisatorische Fragen auf die IT-Entscheider zukommen, wenn es beispielsweise darum geht, Algorithmen und autonomen Systemen Datenzugriffe oder neue Berechtigungen zu erteilen. Oder wie sich lizenztechnisch die Nutzung von Daten und Applikationen durch Algorithmen statt durch menschliche Nutzer auswirkt.

Wie sich die “Autonomous IT” in den kommenden Jahren Stück für Stück heraus bildet und wie KI wesentlicher Bestandteil der Enterprise- und Digital-IT wird, ist derzeit einer unserer Research- und Arbeitsschwerpunkte. Wir freuen uns auf viele weitere spannende Diskussionen mit CIOs, Digitalisieren und Technologen!